Als IJPlerin in Tallinn, Estland

Als IJP-Stipendiatin bin ich seit 1. November bei Postimees in Tallinn, Estland. Ich hospitiere in der Redaktion der Tageszeitung, gehe auf Termine, recherchiere, interviewe Menschen und schreibe meine Geschichten. Wie in Deutschland. Nur auf Englisch. Wenn ich nicht arbeite, erkunde ich die Stadt und das Land, zähle Zebrastreifen, wundere mich über die ein oder andere Eigenheit und lasse mich begeistern von Land und Mentalität. Da ich dem Stipendienprogramm sehr viel zu verdanken habe, möchte ich es an dieser Stelle kurz vorstellen und andere Journalist*innen ermutigen, sich ebenfalls zu bewerben. In den folgenden Blogbeiträgen wird es dann mehr um meine persönlichen Eindrücke von Estland gehen, versprochen. Unter anderem, warum ich eine Woche lang ein estnisches Gesetz gebrochen habe.

Internationale Journalisten-Programme (IJP) ist eine gemeinnützige Organisation, die seit 1981 den internationalen Austausch von Journalist*innen fördert. Finanziert werden die Programme durch öffentliche Mittel und private Geldgeber*innen, thank you very much.

Ich habe mich auf das Mittelosteuropäische Programm beworben, da es einen Schwerpunkt auf Klima- und Energieberichterstattung legt. Die Länder, die in diesem Programm zur Auswahl standen, waren Ungarn, Tschechien, Kroatien, Slowenien, Slowakei und die drei baltischen Länder. Warum ich mich für Estland entschieden habe? Bauchgefühl würde ich sagen. Ich war noch nie im Baltikum, in den anderen Ländern mindestens einmal. Da ich immer schon ein Lokal-/Tageszeitungsmensch war, entschied ich mich für eine Tageszeitung und nicht für einen Fernseh- oder Radiosender. Ich entschied mich für Postimees in Tallinn.

IJP ist, was du draus machst

Zu jedem Stipendienprogramm gehört eine Einführungsveranstaltung, der eigentliche sechs- bis achtwöchige Aufenthalt beim Medium und eine Abschlussveranstaltung mit anschließender Aufnahme ins Alumninetzwerk. Im September fand die Einführungsveranstaltung in Stockholm statt. Die vier Tage dienten vor allem dem Kennenlernen anderer Stipendiat*innen und dem Netzwerken. Dort lernte ich auch Berit kennen, die Auslandsreporterin bei Postimees ist. Sie hat die Kontaktaufnahme zu Postimees deutlich vereinfacht. Auch mehrere andere Reporter bei Postimees waren schon mal als IJPler unterwegs. Das Programm ist in Estland also gut bekannt und zeigt, wie nachhaltig diese Form des Austauschs ist. 

Wie bei allem im Leben liegt es an einem selbst, was man aus dieser Möglichkeit macht. Wartet man auf Beschäftigung aus der Redaktion oder steckt man sich eigene Ziele? Ich habe hier das Glück, meine eigenen Ideen für Geschichten umsetzen zu können, als auch auf Termine geschickt zu werden. Auch den Praktikanten-Klassiker, die Straßenumfrage, habe ich schon hinter mir. Ich befragte Touristen in der Stadt, warum sie trotz der exorbitanten Corona-Infektionszahlen nach Estland gekommen sind. Eine besondere Challenge für mich war hier, dass das Ganze vor der Kamera stattfand. Als der lettische Präsident Egils Levits den frisch gewählten estnischen Präsidenten Alar Karis in Otepää und Tartu im Süden des Landes zu einem Staatsbesuch traf, war ich dabei, zusammen mit einer Reporterin aus Tartu und einem Fotografen.

Keine Sprachbarrieren dank Software

Außerdem wurde ich ins Estnische Nationalmuseum geschickt, etwas, worauf die Esten sehr stolz sind (und sein können, es ist ein tolles Museum). Ich arbeite auch an eigenen Geschichten. Tallinn bzw. ganz Estland hat sich das Ziel gesetzt, bis 2050 klimaneutral zu sein. Dazu haben sie einen sehr detaillierten Action Plan aufgestellt – aber wie realistisch ist das wirklich? Vor allem weil im Osten des Landes, nahe der russischen Grenze, derzeit ein weiteres Ölschieferwerk gebaut wird, das Öl für Schiffe herstellen soll. Auch dieses Werk will ich mir ansehen. Zudem bin ich in Kontakt mit einer estnischen Aktivistin, die derzeit in Glasgow bei der COP26 ist.

Die Sprache bzw. die fehlenden Sprachkenntnisse waren bisher kaum ein Problem. Ich schreibe meine Texte auf englisch und übersetze sie mit der Software Deepl, so etwas ähnliches wie Google Translate. Laut meiner estnischen Kollegen ist die Übersetzung „actually pretty good“, weshalb sie kaum noch etwas daran ändern müssen. Meine Texte erscheinen in Print wie auf der Webseite postimees.ee. Außerdem habe ich die Möglichkeit, meine Texte auch deutschen Medien anzubieten.

Nochmal der Appell: Wenn ihr als Journalist*in euer Geld verdient und mal etwas Auslandsluft schnuppern wollt, bewerbt euch auf eines der Programme, egal ob in Amerika, Asien, Israel, Lateinamerika, Nahost, (Mittel-)Osteuropa, Nordeuropa… Die Organisation lief bisher reibungslos, man wird eng betreut, und die Kontakte sowie Einblicke sind unbezahlbar, die man hier bekommt.