Andere Länder, andere Sitten. 50 Pfennig gehen jetzt ins Phrasenschwein, aber es stimmt ja. Hier schreibe ich über ein paar kuriose Dinge, die mir bisher in Estland untergekommen sind (alles subjektive Eindrücke). Und ich werde endlich auflösen – wie auf Instagram angeteasert – welches estnische Gesetz ich eine Woche lang gebrochen habe und was die Konsequenz daraus ist.
Tallinn und seine Zebrastreifen
Ich habe noch in keiner Stadt so viele Zebrastreifen gesehen. An Ampeln (warum auch immer), ohne Ampeln, über dreispurige Straßen, über einspurige Straßen, um die Kurve. Überall sind Zebrastreifen. An sich gut für Vielläufer wie mich, aber als ich das erste Mal an einer dreispurigen Straße stand und so in den fließenden Stadtverkehr rein schaute, fragte ich mich schon, wie ich da jetzt rüber komme. Weil Zebrastreifen heißt hier nicht unbedingt Vorrang. Aber tatsächlich ist die Strategie „Augen zu und los“ hier sehr hilfreich, die Autos halten schon. Und dann geht das auch wirklich schneller, als wenn da eine Ampel wäre.
Nur logisch ist, dass die Polizei hier wohl auch ohne zu zögern Knöllchen verteilt, wenn man nicht auf dem Zebrastreifen die Straße quert. Hab ich bisher aber nur aus Erzählungen gehört, ich halte mich ja strikt an Zebrastreifen. Also, wenn sie grad da sind. Übrigens sollte man auch an einer grad grün gewordenen Fußgängerampel mal lieber nochmal den Kopf nach rechts neigen. Nicht selten rauscht da doch noch ein Auto an, das den Schuss nicht gehört hat.
Der etwas andere Sauna Klub
Sauna und die Esten, ja, das geht gut zusammen. Daher habe ich mich gar nicht so sehr gewundert, mitten in der Stadt einen “Sauna Club” zu sehen. Das Logo, ein Strichmensch auf einer Bank, von unten angedeutete Hitze, sprach dafür, ja, hier gehen die Städter mal eben nach Feierabend schwitzen. Die Webseite vermittelt dann doch ein etwas anderes Bild von dem, was da vor sich geht. Schwitzen beinhaltet das aber sicher auch. Auf der Webseite wird auch ganz offensiv um „attractive, confident, young girls“ geworben. Überhaupt sind Kasinos und Sexclubs hier sehr präsent im Stadtbild. Kommt sicher aus der Zeit unter den Sowjets.

Speak Easy
Speak Easys sind hier wohl ein Ding. Früher ein Ort, an dem illegal Alkohol ausgeschenkt wurde, sind es heute Bars und Clubs, bei denen man wissen muss, wo sie sind. Sie haben also kein Aushängeschild; man fühlt sich eher wie Harry Potter, der am Bahngleis 9 ¾ auf Einlass wartet. An Tag 2 in Tallinn habe ich mich einer sehr unterhaltsamen, internationalen Mädelsgruppe angeschlossen zu einem Cocktailabend im Speak Easy Whisper Sisters. Kommt sicher auch aus der Zeit unter den Sowjets.
Lisa und Lisaks
Lisa heißt auf estnisch so viel wie „extra“; Lisaks heißt „zusätzlich“, „darüber hinaus“. Außerdem steckt in mehreren Wörtern Lisa/liisa – wenn man also Lisa heißt, hört man ständig seinen Namen. Manchmal etwas verwirrend.
Kinder und ihre Schneeanzüge
Wenn es in meiner Kindheit über Tage so richtig geschneit hat, hat man uns in Vollkörperanzüge gesteckt und auf die Skier gestellt oder Schneemenschen bauen lassen. Abseits davon kenne ich Schnee- oder Skianzüge eigentlich nicht. Hier laufen viele Kinder beim ersten Anzeichen von Regen in diesen Anzügen rum. Was machen die, wenn es mal richtig kalt wird? Auch von den erwachsenen Esten hätte ich eine größere Gelassenheit im Umgang mit der Kälte erwartet. Die Temperaturen erreichen hier bisher selten den Gefrierpunkt, aber viele sind jetzt schon doppelschichtig eingepackt.
Was ist bloß mit der Milch hier los?
Die Kuhmilch, zumindest die aus dem Discounter, ist ein Mysterium. Es braucht nur etwa drei Tage, bis die offene Milch dick und damit ungenießbar wird. Ich kaufe schon gar keine 1-Liter-Packen mehr, sondern nur noch 0,5 Liter, aber auch das bekomme ich manchmal gar nicht schnell genug weg. Hier muss ich noch auf Ursachenforschung gehen.
Käse aus dem Tetrapack
Bleiben wir bei Milchprodukten: es gibt hier (Salat-)Käse aus dem Tetrapack. Spoiler: Sehr lecker tatsächlich.

Weitere Kühlregalüberraschungen
Stehe ich nichtsahnend vor dem Kühlregal und bekomme den Schreck meines Lebens, denn hier, zumindest im Discounter meines Vertrauens, werden die Kühlregale von hinten aufgefüllt. Heißt, greift man nach dem Joghurt, kann es durchaus sein, dass man plötzlich Angesicht zu Angesicht mit einer/m Mitarbeiter*in steht.

Und jetzt: das REFLEKTOR-Gesetz!
Bei einem Redaktionsbesuch in Tartu drückte mir meine Kollegin Eili als “Willkommensgeschenk” einen Kuli von Postimees Tartu in die Hand. Dazu: ein kleines Kärtchen, auf beiden Seiten silber-reflektierend, oben ein ausgestanztes Loch. Dazu ein Stück Schnur und eine Sicherheitsnadel. Ich erinnerte mich, wie ich so etwas bereits bei vielen betagten Damen an der Jacke hab baumeln sehen (und wie ich es doch belächelt habe). Lustig, sagte ich beiläufig zu ihr, ich habe schon viele Menschen damit rumlaufen sehen. Sie schaut mich entsetzt an: “Yes. Of course. Because it’s the law.”
Wie jetzt, Gesetzgesetz? Ja, in Estland ist es seit 2011 gesetzlich geregelt, dass jeder Mensch im Herbst und Winter einen Reflektor an der Jacke tragen muss. Nicht nur das, es ist auch genau geregelt wie: an der rechten Körperhälfte, an einer Schnur baumelnd, 50 bis 60 Zentimeter über dem Boden. Bedenkt man, wie kurz die Tage und dunkel die Nacht hier ist, ist das schon gerechtfertigt.
Was passiert, wenn einen die Polizei ohne Reflektor aufgreift, darauf habe ich mehrere Antworten bekommen: nichts, man bekommt von der Polizei einen Reflektor geschenkt, man zahlt 15 bis 20 Euro, oder man zahlt eine Geldstrafe bis 400 Euro. Letzteres habe ich aber nur im Netz gelesen, gelebte Praxis ist das wohl nicht. Ich bin trotzdem froh, in der ersten Woche, in der ich ohne REFLEKTOR rumgelaufen bin, nicht erwischt worden zu sein. Als Konsequenz habe ich mir dann einen hübschen Reflektor im Estonian National Museum in Tartu gekauft, einen Bär, der jetzt an meinem Rucksack hängt. Auf das Gebaumel an der Jacke habe ich – wie viele Est*innen – keine Lust.
