Die paradoxe Mentalität der Est*innen

Da bin ich nun, in Tallinn, der Hauptstadt des kleinen Landes Estland. Seit fast vier Wochen lebe und arbeite ich hier – schon, erst? Ich weiß es nicht. Es kommt mir vor, als wäre ich schon ewig hier. Mental war ich schon am ersten Tag angekommen. Und das liegt zum guten Teil auch an der Mentalität der Esten und Estinnen. 

Vor der Ankunft habe ich viel über Estland und seine Bewohner*innen gelesen. Sie werden oft als zurückhaltend, einzelgängerisch und verschlossen beschrieben. Ja, das kann ich bestätigen. Was dabei aber oft vergessen wird: Die Esten sind keineswegs kalt, abweisend oder meckerig. Es mag paradox klingen: Die Menschen sind einerseits so herrlich unemotional und wortkarg – an der Kaffeemaschine kann man Schlange stehen, ohne ein Wort zu sprechen, ohne erzwungenen Small-Talk. Aber dann haben sie diesen Sinn für Humor, diese Herzlichkeit. Wenn ein Este (und ich meine hier wirklich vor allem die männliche Form) anfängt zu lachen, lacht er ehrlich und herzlich und das ist sehr ansteckend. I love it. 

Wie ich das Arbeitsleben als Deutsche unter Est*innen erlebe

Auch im Arbeitsalltag gilt – Schweigen ist Gold. Wir arbeiten im Großraumbüro, wirklich Großraum, mit allen Ressorts zusammen auf einem Stockwerk des Bürogebäudes. Und trotzdem ist es fast schon zu ruhig. Natürlich sind nie alle Plätze besetzt. Dazu kommt aber auch, dass kaum jemand telefoniert. Wenn man wirklich längere Telefoninterviews führen muss, klemmt man sich den Laptop unter den Arm und verschwindet in eines der vielen Separees. Die Struktur erlaubt es zudem, dass jede Abteilung alle Aufgaben, vom Schreiben der Texte über das Redigieren bis hin zum Onlinestellen oder auf die gedruckte Seite packen, selbst macht. Das bringt den Absprachebedarf auf ein absolutes Minimum.

Redaktionskonferenzen gibt es hier so gut wie keine. Überhaupt gibt es nichts, was den Arbeitstag zwischen 11 und 19 Uhr unterbricht oder viel reden enthält. Wer in die Mittagspause verschwindet, kündigt das nicht an, sondern ist einfach weg. Gespräche während der Arbeit sind tatsächlich selten, einfach weil alle lieber konzentriert in die Tasten hauen. Und dann, urplötzlich, entspringt doch eine lustige Diskussion über die leckersten Süßigkeiten und welche es zu Sowjetzeiten gab und welche nicht.

Keine Labernation, kein Kreuzverhör

Als Ausländerin werde ich im Büro zwar manchmal im Vorbeigehen fragend beäugt, aber selten spricht mich jemand außerhalb meiner Abteilung (Foreign News) an oder stellt Fragen zu meinem Aufenthalt. Das ist kein Desinteresse, sondern jede*r kümmert sich einfach um seinen Kram und lässt den anderen sein. Das merkt man zum Beispiel auch gut am Chefredakteur, der zwar regelmäßig bei mir vorbeischaut und fragt, wie es läuft, dann aber nicht so recht weiß, was er noch fragen soll und etwas verunsichert (aber tiefenentspannt) wieder abdampft.

All das ist ein riesen Unterschied zu den – liebevoll gemeint – Labernationen, in denen ich vorher gelebt habe, wie Kanada, England oder den Niederlanden. Wenn ich dort irgendwo neu war, geriet ich doch regelmäßig ins Kreuzverhör redseliger Menschen.

Dass die Menschen hier teilweise eher scheu sind, liegt auch daran, dass das Englisch vieler gerade älterer Est*innen nicht sehr gut ist. Aber auch bei den Jüngeren kommt es vor, dass sie nur sehr wenig Englisch sprechen (wollen) und noch wortkarger werden, wenn ich sie bitte, auf englisch zu sprechen. Umso inbrünstiger versucht dann aber der ein oder andere Este (wieder vor allem die männliche Spezies), sich an die letzten Brocken Deutsch zu erinnern, die er anno dazumal in der Schule gelernt hat.

Wie gesagt, die Esten sind keineswegs kalt oder abweisend. Es ist einfach nicht deren Mentalität, im tiefsten Inneren anderer Menschen rumzugraben. Verbringt man aber etwas Zeit mit ihnen, tauen sie auf und in ihren Augen sieht man sehr viel Witz, Wärme und Lebensfreude. Als Deutsche fällt einem diese Fröhlichkeit und Leichtigkeit wirklich auf. Woher diese Leichtigkeit kommen mag? Zum einen sicher davon, dass sich jeder mehr um sein eigenes Business kümmert als beim anderen zu schauen, was er/sie falsch macht. Aber auch davon, dass in diesem Land viele Dinge, die unkompliziert laufen sollten, einfach auch unkompliziert laufen. Sie kämen überhaupt nicht auf die Idee, etwas komplizierter zu machen, als es sein müsste. Diese Leichtigkeit trägt viel zu dem Erfindermut dieser Nation bei. Anstatt zu meckern wird hier versucht, etwas besser zu machen.

Ein kleines Land, das gelernt hat, groß zu denken

Denn Est*innen sind sich sehr bewusst, dass sie in einem kleinen Land leben: Estland hat grade mal rund 1,3 Millionen Einwohner. Das führt in vielen Dingen zu einem sehr hilfreichen Reflex: Weil sie sich bewusst sind, dass der eigene Markt sehr schnell erschöpft sein wird, legen sie ihre Lösungen direkt für den internationalen Markt aus. Ein Beispiel ist Skype, das bereits 2003 in Estland entwickelt wurde (auch wenn das Unternehmen von einigen Schweden schlussendlich gegründet wurde). Das grenzenüberschreitende Denken schlägt sich auch im Journalismus nieder. Hier wird enorm viel gereist, man orientiert sich sehr an Ländern wie Deutschland und scheut sich nicht, mehrtägige Reisen dorthin zu finanzieren. Es gibt aber auch den Drang, Geschichten aus Estland in die Welt zu tragen. Ein Redakteur, mit dem ich hier viel zu tun habe, erzählte mir, dass er davon träumt, seine Geschichten für einen größeren Markt als Estland (immerhin ein ganzes Land) zu schreiben.

Diese Denke, diese Leichtigkeit, Unkompliziertheit und auch Verbindlichkeit macht meinen Aufenthalt hier sehr interessant. Vieles davon möchte ich mir zurück in Deutschland beibehalten.